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Einfach „HOMO“ – Mehr Toleranz für diese wirren Zeiten

Auf der Suche nach der Wahrheit und der Rolle des Staates

Aber dennoch setzte sich wohl überwiegend die These vom unfehlbaren Menschen durch. Daher kann man die Bezeichnung HOMO durchaus auf den Menschen anwenden. In Anbetracht der naturwissenschaftlichen Grenzorbitaltheorie bei der Elektronenbesetzung der Atomschalen – „HighestOccupiedMolecularOrbital“ (HOMO) – ist die Meinung stark verbreitet, dass der Mensch ein scheinbar vollkommenes Wesen sei.

Markus H. Schiml

In der Sozialwissenschaft und der Philosophie wird seit jeher diskutiert, wie der Mensch, also der HOMO Sapiens, Entscheidungen trifft, handelt und in seiner sozialen Interaktion mit anderen Menschen agiert. Verschiedene Menschenbilder wurden für den Zweck einer Vereinfachung der Realität herangezogen: „Der Mensch, das theoretische Tier“, versucht sich durch diese Vereinfachung in theoretischen Modellen bei der Erkenntnisgewinnung zu Nutze zu machen, indem er eine Vereinfachung der komplizierten Welt der komplexen Phänomenen anstrebt.

In der Wirtschaftswissenschaft und der Kapitalmarkttheorie dominiert seit jeher der Homo Oeconomicus in der Theorie Rationaler Erwartungen. Zumindest theoretisch. Ein Mensch mit festen Präferenzen, also ein Automat, der seinen Gewinn und seinen Nutzen maximieren und in einer weisen Voraussicht auf zukünftige Ereignisse entscheidet und handelt. Bei sich ändernden Informationen, die ihm alle sofort lückenlos bekannt sind, kann er sein rationales Handeln problemlos mit unendlicher Reaktionsgeschwindigkeit anpassen. Bereits Immanuel Kant prägte im 18. Jahrhundert den Ausdruck Homo Rationabiles.

Mit der Erweiterung der neoklassischen Theorie und der Berücksichtigung von Transaktionskosten und Principal-Agent-Konstellationen wurde dieser Absolutheitsanspruch in gewisser Weise eingeschränkt und der REMM, also der RessourcefulEvaluatingMaximizingMan eingeführt, der unter Berücksichtigung von Principal-Agent-Beziehungen Transaktionskosten wie Zeit und Geld beispielsweise bei der Informationsgewinnung, Verarbeitung, der Handlungsvorbereitung und der Handlungskontrolle, z.B. durch Rechtsanwälte oder Steuerberater unterliegt.

Schon vor Jahrhunderten wurde die Reduktion des Menschen auf die Vernunft von Friedrich v. Schiller (1759–1805) und später durch Herbert Marcuse(1898–1979) aufs Schärfste angegriffen, indem sie den spielenden Menschen Homo Ludens erschufen. Johan Huizinga (1872–1945) setzte dem Rationalitäts-Paradigma später den Satz : „..und er [der Mensch] ist nur ganz Mensch, wo er spielt“ entgegen.

Aber dennoch setzte sich wohl überwiegend die These vom unfehlbaren Menschen durch, so dass man die Bezeichnung HOMO in Anbetracht der naturwissenschaftlichen Grenzorbitaltheorie bei der Elektronenbesetzung der Atomschalen – „HighestOccupiedMolecularOrbital“ (HOMO) – ein scheinbar vollkommenes Wesen sei. Und auch Max Frisch (1911–1991) betonte in seinem „Homo Faber“, dass der schaffende Mensch bzw. der menschliche Handwerker zu erstaunlichen Leistungen angetrieben wird, wenngleich auch sein Gefühls- und Seelenleben dadurch zu kurz kommt.

Nicht ganz so optimistisch zeigte sich der Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679). Er vertrat das Menschenbild des HOMO Homini Lupo: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“. Er ist der Meinung, dass es eine starke Macht des Staates (Leviathan) bedarf, dass sich die egoistischen, selbstsüchtigen und machtsüchtigen Menschen nicht gegenseitig ausrotten, bzw. um Anarchie und Chaos zu verhindern. Doch obwohl bereits die Griechen den Menschen als „rationales Tier“ bezeichneten, sah der Empiriker David Hume (1711–1776) im Menschen nichts anderes als ein von Natur aus irrationales Tier.

Der zeitgenössische Philosoph und Anarcho-Liberale Hans-Hermann Hoppe, Professor in Las Vegas, vertritt dahingehend die extrem entgegen gesetzte Richtung eines HOMO Liberalis. Der selbständige, eigenverantwortliche und mündige Bürger kann seine Entscheidungen selbst treffen und bedarf keiner Bevormundung von der Politik, so dass sich Gemeinschaften durch spontane Zusammenschlüsse von Personen im Sinne der Clubtheorie bilden können.

Wo liegt nun aber die „Wahrheit“ oder zumindest der kleinste gemeinsame Nenner? Sind die Handlungen des Menschen nun grundsätzlich rational geprägt, emotional oder sogar grundsätzlich böse? Soll der Staat schützend oder ordnend eingreifen? Und in welchem Umfang? Kann der Mensch überhaupt wahre Erkenntnis erlangen? Und mit welchen (wissenschaftlichen) Methoden soll dies generell geschehen? Oder kann er (der Mensch) sich zumindest an die wahre Erkenntnis annähern?

Der ontologische Skeptizismus, der bei solchen Fragestellungen immer zugegen ist, hat dabei eine sehr lange Tradition. Nach der Wiederentdeckung von Pyrrhons Lehre, dem Vater des Skeptizismus, durch Michel de Montaigne(1533–1592) konnten ihn auch René Descartes (1596–1650) oder Immanuel Kant (1724–1804) nicht wirklich überwinden und verstärkten diesen sogar noch. Ein weiterer Vertreter war sicherlich auch der bereits erwähnte David Hume (1711–1776). Und auch die Philosophen und Wissenschaftstheoretiker des kritischen Rationalismus von Karl Popper (1902–1994) und Hans Albert(*1921) und der kritischen Theorie der Frankfurter Schule eines Jürgen Habermas (*1929) oder Theodor Adornos (1903–1969) schaffen mit ihrer neuen Rationalität weitere Zweifel. Damit aber noch nicht genug: Schließlich war es die anarchistische bzw. dadaistische Erkenntnistheorie eines Paul Feyerabends (1924–1994), welche einen methodischen Zugang der Wissenschaft zu Erkenntnis und Wahrheit wohl vollends zerstörte und dem Zufall einen nicht unbedeutenden Stellenwert einräumte. Und Ludwig Fleck (1896–1961) und sein berühmterer Nachfolger Thomas Kuhn (1922–1996) zerstörten schließlich auch die Illusion von einer objektiven Wissenschaft, indem Wissenschaft in erster Linie kooperative Veranstaltungen von Forschergemeinschaften sind, in denen soziale, psychologische und politische Strukturen entscheiden. So wird die Analyse von Wissenschaft soziologisiert wobei Erziehung, Tradition und die Reihenfolge des Erkennens auf die Erkenntnisfähigkeit durch „Denkollektive und Denkstile“ einwirken und Individuen nur eine untergeordnete Rolle zukommt – ein Forschungsbereich, der gerade heute wieder mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

Im Grunde wohl eine hoffnungslose Angelegenheit! Ein neues interdisziplinäres Forschungsfeld kann hier möglicherweise helfen, die Verwirrung etwas zu lichten: der (radikale) Konstruktivismus.

Forscher aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsgebieten haben dabei Bausteine zu einer Metatheorie geliefert, die so gesehen noch nicht abgeschlossen ist. So sind Forscher aus der Psychologie, Philosophie, Biologie, Kommunikationswissenschaft und Pädagogik in der sog. Kognitionswissenschaft zu Gange.

Das Ausgangsproblem ist, dass viele Philosophen bereits seit jeher bezweifelten, dass durch eine rationale Ontologie sicheres Wissen über die Welt möglich sei, was schließlich im sog. Münchhausen-Trilemma (Hans Albert) zusammengefasst wurde. So kommen die Grenzen der formal-deduktiven Logik sehr schnell zum Vorschein, wenn man für alles eine Begründung verlangt. So muss man wiederum für die Aussage, die zu dieser Begründung führt eine Begründung verlangen, usw.., wodurch es a) zu einem infiniten Regress, b) logischem Zirkel oder c) einem Abbruch des Verfahrens kommen muss. Empirisch orientierten Erkenntnistheoretikern wird dagegen die Problematik vorgeworfen, dass durch Sinnesorgane wahrgenommenen Empfindungen und Eindrücke keine wahren Abbilder der Realität sind, sondern nur physikalische Prozesse widerspiegeln. Zusätzlich sei es unmöglich, aus den Erfahrungen eine objektive Wirklichkeit ableiten zu wollen, denn nur das Erkennen führt zu einer Erfahrung und die ist mit dem Noch-Nicht-Erfahren-Sein nicht objektiv zu vergleichen.

Der Dreh- und Angelpunkt konstruktivistischen Denkens ist die genetische Epistemologie des Biologen Jean Piagets (1896–1980), auf den sich wohl nahezu alle konstruktivistischen Untersuchungen danach stützen. Er entwickelte ein Konzept der Entwicklung der Erkenntnis und dem Aufbau der Welt bei Kindern oder wie es besser heißt, die Erklärung der kognitiven Entwicklung des Menschen, indem er den Prozess beschreibt und klassifiziert, den Kinder bis zum Erwachsenenalter durchlaufen, bei dem Sie ein Verständnis von sich und ihrer Umwelt erhalten. Er beschreibt menschliche Adaptation als eine Interaktion zwischen Assimilation (Erkenntniserweiterung durch bisher erfolgreiche Reaktionen) und Akkomodation (Verhaltensänderung nach Misserfolgen), die durch Spiel, Imitation oder intelligente Adaptation entsteht. Wissenserwerb wird durch die Interaktion des Kindes mit der Umwelt ermöglicht. Die das Lernen formende Kräfte sind Reifung, Umwelt, Gleichgewichtsstreben („Equilibrierung“) und Sozialisation auf dem Weg zur sog. „Viabilität“, einem vorübergehenden Zustand, sein Verhalten an die Zweckmäßigkeiten der dynamischen Umwelt angepasst zu haben.

Humberto R. Maturana (*1928) und Francisco J. Varela (1946–2001) zeigen diese Problematik einer Subjektivität der Erkenntnisfähigkeit der Sinnesorgane mit Hilfe biologischer Methoden auf. Sie gehen in ihrer Erkenntnistheorie, die sie Kognitionswissenschaft nennen, wie „das Erkennen die Erklärung des Erkennens erzeugt“. Sie betonen, dass diese Ontologie ein Schwindelgefühl auslösen kann wie die Zeichnungen des Künsters M.C. Eschers (1898–1972). Insbesondere sein Werk „Zeichnende Hände“, in dem zum Ausdruck kommt, dass wir sowohl den Akteur als auch den Beobachter unserer Welt einnehmen. Die Konsequenz daraus wäre, dass es überhaupt keinen festen archimedischen Punkt geben kann, da die von uns beobachtete Welt nicht unabhängig vom Betrachter ist wie in der traditionellen Erkenntnistheorie. So ist alles Erkennen relativ und abhängig von der biologischen und sozialen Geschichte. Und allen Menschen gemein ist nur ihre biologische Tradition. Sobald wir reflektieren, also Unregelmäßigkeiten erkennen, wenn also unsere Verhaltensweisen in der Praxis versagen, bringen wir neue Konstellationen von Relationen der Realität hervor, die zuvor durch Koppelung an eine soziale Gruppe eine biologisch-kulturelle Tradition war. Unsere Existenz erzeugt somit sog. blinden Flecken, die durch die Schaffung anderer blinder Flecken in anderen Bereichen verschwinden. „Wir sehen nicht, was wir nicht sehen, und was wir nicht sehen existiert nicht.“ Damit beschreiten Sie einen Kompromiss bzw. Mittelweg zwischen Objektivismus (Repräsentationalismus) und Idealismus (Solipsismus). So ist unsere Welt, die wir in einer sozialen Interaktion hervorbringen eine Mischung aus Regelmäßigkeit (Festigkeit) und Veränderung (Flüchtigkeit). Sie sprechen dabei von einem „kognitiven Kreis“ bzw. einer „kognitiven Zirkularität“, in dem wirksames Handeln zu wirksamen Handeln führt, wodurch jede hervorgebrachte Welt ihre Ursprünge durch diese Rekursivität verbirgt. Erkenntnis ist kein Prozess, der linear fortschreitet. „Erkennen ist effektives Handeln; und indem wir erkennen, bringen wir uns selbst hervor“, so dass wir neue Konstellationen von Relationen in einem „autopoietischen“ System, in dem der Beobachter selbst gleichzeitig auch Akteur ist, hervorbringen.

Auch viele Kybernetiker zeigen, dass es keine wirklichen Linearitäten in Ursache-Wirkungs-Beziehungen gibt, wie sie etwa der Mathematiker Ilja Prigogine (1917–2003) sah. Vielmehr sind alle Zusammenhänge zyklisch mit vielfältigen Rückkopplungseffekten. Menschen sind daher genauso wenig Automaten, wie die Realität eine triviale Maschine ist. Und auch der berühmte Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) unternimmt ein ehrgeiziges unterfangen indem er die soziologische Systemtheorie begründet und ähnliche Grundannahmen macht. Auswirkungen hat dies nicht zuletzt auf die Kommunikation als Element sozialer Systeme und sozialer Interaktion, wodurch vielfach eigene Welten aufgebaut werden. Sehr anschaulich zeigt dies Paul Watzlawick (1921–2007) in seinen berühmten Werken „Anleitung zum Unglücklichsein“ oder „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“. Und seine berühmten Mitstreiter Heinz von Förster (1911–2002) bzw. Ernst von Glasersfeld (*1917) waren die Begründer dieses sog. „Radikalen Konstruktivismus“.

[D]er Glaube, daß die eigene Sicht der Wirklichkeit die Wirklichkeit schlechthin bedeutete, [ist] eine gefährliche Wahnidee. Sie wird dann aber noch gefährlicher, wenn sie sich mit der messianischen Berufung verbindet, die Welt dementsprechend aufklären und ordnen zu müssen – gleichgültig, ob die Welt diese Ordnung wünscht oder nicht.

Paul Watzlawick (2003)

Aufgrund der hier dargestellten skeptischen Tradition, der Anwendung des konstruktivistischen Gedankenguts in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen möchte ich mich der Meinung von Paul Watzlawick (2003, S. 218 f.) anschließen, der es als nötig ansieht, die Wirklichkeit zu relativieren und sich den katastrophalen Folgen des Wahns einer objektiven Wirklichkeit zu entledigen. Vor allem die Einsicht mit relativen Wahrheiten, dem Wissen nichts zu wissen (Sokrates ), mit nie zu beantwortenden Fragen und mit der Ungewissheit jeglicher Existenz zurechtzukommen, ist die Grundvoraussetzung für Toleranz und menschliche Reife. Und das vor allem, wenn man bedenkt, dass das Informationszeitalter wohl erst begonnen hat und die Halbwertszeit des Wissens immer mehr ab- und dadurch die Gefahr von Unsicherheit und Zweifel immer mehr zunimmt. Ist diese aber nicht ausgeprägt, so werden die Großinquisitoren zurückkommen und wir wie Lemminge das Ende unseres verantwortungslosen Daseins erwarten.

Die Bekräftigung von Skepsis und Toleranz versucht Watzlawick auch an anderer Stelle:       „ [D]er Glaube, daß die eigene Sicht der Wirklichkeit die Wirklichkeit schlechthin bedeutete, [ist] eine gefährliche Wahnidee. Sie wird dann aber noch gefährlicher, wenn sie sich mit der messianischen Berufung verbindet, die Welt dementsprechend aufklären und ordnen zu müssen – gleichgültig, ob die Welt diese Ordnung wünscht oder nicht“ (Watzlawick, 2003, S. 9).

Eine absolute Wahrheit gibt es demnach wohl nicht. Ist der Mensch nun absolut rational oder emotional. Bedarf der Mensch nun einer führenden Hand oder kann er eigenverantwortlich handeln?

Sieht man in die Verfassung, so hat der Bürger ja doch eine Reihe von Grundrechten und Freiheiten, die man ihm zuspricht. Ja es wird wohl auch dort theoretisch davon ausgegangen, dass man es mit „mündigen und eigenverantwortlichen Bürgern“ zu tun hat. In der Praxis scheinenUmerziehungsbestrebungen des Staates in Mode zu sein. Dem mündigen Bürger, so könnte man meinen, kann man wohl doch keine so mündigen Entscheidungen zutrauen. So muss der Staat dies für Ihn übernehmen. Europa, Rauchverbot, Glühbirnenverbot, Tempolimit, Fahrverbot an Sonntagen, Mietendeckel, Impfzwänge, Verbot, Verbot, Verbot. Selbst die Grenze des guten Geschmackes will man dem Bürger mit einer „Ernährungssteuer“ auch noch politisch zeigen. Aus welcher Legitimation nehmen Politiker ihre Anmaßung? Fachliche Qualifikation? Wohl eher nicht… Vielleicht interpretiere ich Freiheit auch anders als Politiker. Wohl doch eher subjektiv-konstruktivistisch…?

Was haben nun die Umerziehungsmaßnahmen des Staates mit einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie zu tun? Im Moment wohl eher gar nichts. Politiker vertrauen wohl immer noch hilflos ihren Experten und Beratern im Hintergrund oder dem politischen Konsens aus der Parteizentrale. Aber das alles ist menschlich. Anreizökonomisch sehr leicht zu durchschauen.

Nachdem scheinbar jeder Mensch seine eigene Welt, seine eigene Realität schafft, gibt es kein sicheres Wissen. So zumindest die eben dargestellte konstruktivistische Weltsicht. Dann ist es auch nicht unmittelbar einsichtig, warum ein paar Wenige direkt in die Welt anderer eingreifen ohne sich über die Folgen bewusst zu sein. Dass derartige direkten Eingriffe für Ausweichreaktionen sorgen ist vorhersehbar. Und welcher direkte Eingriff des Staates führte schon mal sofort zu den Maßnahmen, die man sich vorher erhofft hat? Wie oft musste man nachbessern oder zurückrudern. Wie oft stimmten die Prognosen nicht oder die Annahmen? Und wie oft folgten Reaktionen im politischen Prozess nur Zeit verzögert oder gar nicht? Wieso überlässt man nicht den einzelnen Wirtschaftssubjekten nicht mehr Freiraum oder mehr Kompetenzen? Wenn der Staat an jeder Ecke steht und seine Bürger bevormundet und sie erzieht, dann ist es auch kein Wunder, dass dieses Verhalten in einer komplexen Welt als bequem empfunden wird: „Brot und Spiele“ eben. Ob das im Sinne der Erfinder war? Ich will es einmal bezweifeln. Dass mehr Eigenverantwortung mit mehr Markt einhergeht liegt in unserer arbeitsteiligen Welt klar auf der Hand. Wie die Ausgestaltung des Marktes ist, das liegt wiederum bei uns. Bei jedem Einzelnen. Das muss keine egoistische, eigennützige und kalte Welt sein. Im Gegenteil! Aber das liegt wohl in unserer „Konstruktionsarbeit“.

Dass diese Einstellungen und Erkenntnisse eine gewisse Verwandtschaft mit der Lehre der Austrian Economics um Friedrich August von Hayek (1899–1992) oder Ludwig von Mises (1881–1973) haben, liegt zweifellos auf der Hand. So wird auch dort, in der Theorie des Handelns, oder wie Ludwig von Misesin seinem magnusopus „Human Action“ es nannte, die „Praxeologie“, der Subjektivismus zum elementarsten Bestandteil seiner Überlegungen. Im Grunde sieht Ludwig von Mises den Begriff “subjektives” Handeln gar als überflüssig an, da jedes Handeln nur subjektiv ist und auch nur aus Sicht des Handelnden bewertet werden kann.So wird der neoklassischen Gleichgewichtsanalyse, also der Theorie der Wahlakte, widersprochen, wonach Informationen für jedermann zugänglich offen liegen. Vielmehr bedarf es hier in einem evolutorischen Prozess einer Prüfung auf „Viabilität“ im konstruktivistischen Sinne. So werden Informationen erst in einem menschlichen (sozialen) bzw. unternehmerischen Handlungsprozess auf der Suche nach neuen Zielen und den dafür nötigen Mitteln offenbart (Prozess der sozialen Koordination). Nicht vorher. Bei diesem spontanen Koordinationsprozess spielt die Geschichte eine große Rolle, aus der man für die Zukunft nur lernen kann. Professor Jésus Huerta de Soto sprich dabei sehr optimistisch auch von einem sog. „sozialen Big-Bang“, also einem grenzenlosen, dynamischen Prozess der Wissensaneignung, der sich immer fort ausdehnt und die Entwicklung der Zivilisation voranbringt. Wenn man nun den Kreis schließt und auf die Rationalitätskonzepte zurückschaut, so kann man hier wohl eine Kombination, oder besser systemtheoretisch, einer Rückkopplung oder Zirkularität aus Homo Agens, dem handelnden Mensch, und einem Homo Discens, einem lernenden Menschen, der seine „Weltenkonstruktion“ aufgrund neu generierten Wissensanpasst, konstatieren. Rationalität entspricht dabei einer strengen Subjektivität im rationalen Handeln, also der subjektiven Zeit und der unternehmerischen Kreativität in einer Theorie der dynamischen sozialen Prozesse.

Ob in näherer Zukunft überhaupt die Möglichkeit besteht auf breiterer Ebene systemisches und konstruktivistisches Denken in Ökonomie,  Wirtschaftswissenschaft oder Gesellschaft zuzulassen, ist wohl mit dem verbunden, was Thomas Kuhn als „die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ bezeichnete, Ludwig Fleck „die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache“ nannte oder Paul Feyerabend als „anarchistische Schritte“ bzw. „Zufall“ ansah. Und der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951, bei dem die Kommunikation einen entscheidenden Punkt bei der Weltenkonstruktion darstellt, schließt seine logisch-philosophischen Abhandlungen mit dem Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man Schweigen“.

Disclaimer: Diese Abhandlung entstand im Jahr 2007. Sie wurde ein wenig an die heutige Diskussionen angepasst. Dennoch scheint sie aktueller und deren Inhalt aus meiner Sicht wichtiger denn je zu sein.

 

Literaturauswahl:

Albert, H. (1968): Traktat über kritische Vernunft, Tübingen.

Feyerabend, P. (1986): Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main.

Fleck, L. (1935): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt am Main, 1980.

Glasersfeld, E. v. (1996): Radikaler Konstruktivismus, Frankfurt am Main.

Hayek, F. A. v.(1969): Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Hayek, F. A., von (Hrsg.): Freiburger Studien, Tübingen, S. 249 – 265.

Huerta de Soto, J. (1992): Socialismo, cálculo económico y función empresarial, Madrid.

Kuhn, T. S. (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt.

Maturana, H. R. und F. J. Varela (1984): Der Baum der Erkenntnis – Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Bern – München.

Mises, L. v. (1940): Nationalökonomie, Original: Genf, Nachdruck: München 1980, englische Fassung: “Human Action”.

Piaget, J. (1937): The Construction of Reality in the Child, New York, 1954.

Popper, K. (1934): Logik der Forschung, Tübingen.

Watzlawick, P. (2003): Wie wirklich ist die Wirklichkeit, München – Zürich.

 

Markus H. Schiml

Markus H. Schiml ist Diplom-Volkswirt (Univ.) und war Dozent, Lehrbeauftragter und Publizist. Er leitete das Institut für ökonomische Bildung “Campus Quadrat”. Im Deutschen Bundestag war er zur Zeit der Subprime- und Eurokrise als Experte und Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Währungs- und Finanzfragen tätig. Nach seinem Zweiten Staatsexamen unterrichtet er an Universitäten, Gymnasien und Wirtschaftsschulen. Er ist Vorreiter für ein Unterrichtsfach “Glück und Resilienz”.

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