Zeitgeist & Dialectics

Der wunderliche “Simplicissimus Teutsch”

„Tittytainment“ als Mode-Zeitgeist"

„Wenn man laut nach Gott ruft, wird bald der Teufel vor der Tür stehen.“

Markus H. Schiml

 

Der Ruf nach Papa und Mama Staat wird allerorten immer lauter. „Tittytainment“ (Zbigniew Brzezinski) ist flächendeckend angesagt. Verantwortungen abgeben und (dabei) moralische Absolutheitsansprüche unter dem Deckmantel der psychologischen Absolution stellen. Diese Infantilität ist wohl die Sehnsucht nach Erlösung aus der (zu) komplexen Welt und aus der Kindheit. Sigmund Freud (1856-1939) nannte es “ES” und ÜBER-ICH, jetzt nennt man diese Infantilitäten wohl vielmehr “INNERES KIND” und “INNERER-ERWACHSENER” (“INNERES TEAM”).

Auch unter vielen Intellektuellen scheint dieser Drang zu bestehen. Früher waren es Religionen und Herrscher, welche diese kindlichen Atavismen auffingen und in Macht transferierten. Heute sind es leider immer noch auch staatliche Institutionen. Die sagen nicht „Nein“ bei diesen Angeboten, greifen gerne zu und üben sich in überhasteten, wenig durchdachten Alibi-Aktionismen. Gleichzeitig nähren sie dieses unselbständige, kindliche Denken in den Kategorien „Gut“ und „Böse“ bzw.„Schwarz“ und „Weiß“. Wer nicht meiner Meinung ist, ist zwangsläufig böse. Dabei gibt es in jeder zeitgenössischen Serie auf Netflix & Co, nicht wie im Märchen und bei Heinz Erhardt in den 1960ern, extreme Ambivalenzen und Grautöne. Zu differenzierten Analysen fehlt wohl die Zeit, der Mut, die “richtige” Peer-Group oder der Open-Mind. Ideologien tummeln sich überall, die Bestätigung finden müssen. Der Journalismus als vierte Kraft der Balance of Powers ist, wenn überhaupt, nur noch rudimentär vorhanden.

Es wäre spannend, sich als Ethnologe während so einer Gesellschaftsentwicklung unter sog. „primitive“ Völker mischen zu können. Dabei sind diese Völker, welche Ethnologen traditionell im Blick haben,im Vergleich wohl alles andere als primitiv. Was soll man sagen?Die Ethnologen können heute ihre Feldstudien zu Hause, im Cafe, an ihrer Uni vor Ort oder in den (sozialen) Medien machen. Ein Traumjob. Jedes Gespräch wird zu einer Psychoanalyse. Jede Zeitungslektüre und jeder Medienkonsum verleitet zum Schmunzeln. Selbst Sprachphilosophen kommen auf Ihre Kosten. Staatlich verordnetes Framing und Nudging sind dagegen wohl eher noch harmlos. Nicht nur linke und rechte Gruppen überbieten sich mit Hassparolen und Absolutheitsansprüchen über die andere Seite in den geschlossenen Gesellschaften. Und selbst in diesen geschlossenen Gesellschaften geht es mancherorts ziemlich zur Sache, weil manche eben (noch) nicht radikal genug sind. Selbst die Think-Tanks kreisen im eigenen Saft, wenn ihre Mitglieder – ob links oder rechts – sich gegenseitig auf die Schulter klopfen. Dabei verfestigen sich die Extremmeinungen. Nicht nur an den Rändern. Political Correctness wird von den Staatsmedien verordnet und jede kleinste Abweichung wird mindestens moralisch niedergeschmettert. Dabei sollten staatliche Institutionen doch eher logistische Dienstleistungen bereitstellen und nicht die flächendeckende Erziehung von erwachsenen Menschen. Muss das Alter der beschränkten Geschäftsfähigkeit nun deutlich heraufgesetzt werden, wenn es nach der Rhetorik vieler Politiker geht? Werden die „neuen“ Widerstandskämpfer – früher hießen diese einmal Bürgerrechtler – auch einmal in Zukunft Mainstream und in unterschiedlichen neuen Parteien in den Bundestag einziehen? Gerade wird dieser „zivile Ungehorsam“ wieder einmal kriminalisiert. Es wird spannend zu verfolgen, wie die Kinofilme der Zukunft die heutigen Protagonisten bewerten. Wer kommt einmal auf den heiligen Sockel der „Guten“ und wer erhält ein Büßergewand. Wie man sieht, ändern sich derartige Bezüge nicht selten sehr schnell. Mehrheitsmeinungen werden im gesellschaftlichen Zeitgeist zu Minderheitenmeinungen. Willkommen im 21. Jahrhundert! Es ist nicht wesentlich anders, als es schon immer war.

Wie hieß es mal bei den Sportfreunden Stiller: 54 – 74 – 90 – 2010? Seit einiger Zeit passt es fast noch besser: 29 -69 – 2019+!

Was ist zu tun? Wir sollten Brücken bauen, nicht ausgrenzen. Nicht der Monolog sondern der Dialog ist gefragt! Nicht das Schulterklopfen der eigenen Reihen sollte man genießen, sondern das Unbequeme der konstruktiven Auseinandersetzung muss gesucht werden. Man sollte die  Beweggründe und Werte der Mitmenschen anhören und ernst nehmen. Man sollte sich empathisch auf die Beweggründe der anderen einlassen. Man sollte berücksichtigen, dass man selbst andere Erfahrungen und Erlebnisse hatte als der, der zu einem anderen Entschluss kommt. Sind solche Prozesse zwangsläufig unmoralisch, unethisch, unsozial, dumm, rechts, links, etc.? Natürlich sind solche Denkprozesse komplex. Botschaften (Bücher) die abwägen, differenzieren, Perspektiven wechseln verkaufen sich wenig. Am Leichtesten ist es, den anderen von vorneherein als dumm oder unmoralisch abzustempeln. Das ist einfach und spart einem viel geistige und empathische Auseinandersetzung. Dann lieber doch Extreme „verkaufen“, weil es die Masse leicht versteht. Die Polarisierung in Gut vs. Böse, Links vs. Rechts, Reich vs. Arm, Geimpft vs. Ungeimpft schafft Klarheit und Eindeutigkeit. Erwachsene Menschen sollten aber endlich lernen mit Grautönen klarzukommen.

Jeder sollte in solchen Diskussionen sich und seine “Ideologie”, also sein ELTERN-ICH, hinterfragen. Und jeder sollte spüren lernen, wann denn sein “INNERES KIND” das “ICH” übermannt. Dabei muss man nicht, wie der große Nihilist Friedrich Nietzsche (1844-1900) meinte, zum Übermenschen werden, weil der Mensch noch mehr Affe als Mensch (?) sei. Kleine Schritte genügen auch. Wir können die absolute Wahrheit nicht erkennen. Das muss uns immer vor Augen sein. Selbstverständlich gilt das auch und insbesondere für den Autor.

Über Nietzsche sagt man gewöhnlich, er sei seiner Zeit 100 Jahre voraus gewesen. Wahrscheinlich ist unsere Zeit nicht annähernd bereit, Nitzsche wirklich verstehen zu können. Und vom Verstehen Nietzsches zum Handelnbzw. Der Anwendung dieses Wissens würde dann immer noch ein weiterer, großer Schritt nötig sein.

Der große Peter Scholl-Latour (1924-2014) schreibt noch in seiner Autobiographie einen hierbei sehr entscheidenden Gedanken: Man muss die „Chimäre der Political Correctness als Lüge entlarven“. Dabei braucht man eine realistische Einstellung zur Wahrheit. Denn die Behauptung diese zu kennen, sei gefährlich. Man müsse versuchen, dieser Wahrheit durch seine eigene begrenzte Wirklichkeit nahe zu kommen. Der Anspruch auf Wahrheit sei Theologie. Denn die Wahrheit des Mannes sei nur das, was er verberge. Schließlich verweist er folgerichtig auf Molièr (1622-1673): „Der Freund des Menschengeschlechts ist niemandes Freund!“ Wie recht er damit hatte.

Um es abschließend auf den Punkt zu bringen:

Wenn man laut nach GOTT ruft, so könnte doch schon bald der Teufel vor der Tür stehen! „Gottspieler“, Dogmatiker, Simplifizierer und Ideologen aufgepasst! Diese Warnung gilt vor allem heute immer mehr zu berücksichtigen.

Literaturhinweise:

Roland Bader: Geld, Gold und Gottspieler, 2005.

Sigmund Freud: Das Ich und das Es, 1923.

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, 1668/69.

Hans-Peter Martin und Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle, 1996.

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 1883-86.

Friedrich Nietzsche: Ecce homo, 1888.

Peter Scholl-Latour: Mein Leben, 2015.

Stefanie Stahl: Das innere Kind muss Heimat finden, 2015.

Friedmann Schulz von Thun: Miteinander reden 3 – Das ‘innere Team’ und situationsgerechte Kommunikation, 1998.

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